23. Juli 2013 09:49 Esskultur
heute "Aufessen ist keine Wertschätzung"
Von Violetta Simon
Essen
macht dick, krank und die Zähne kaputt - ist das wirklich alles, was uns dazu
einfällt? Im Gespräch mit Süddeutsche.de erklärt
die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler, warum Essen auch Selbstliebe
ausdrücken kann, und warum nur Anfänger Schokolade schnell in sich
hineinstopfen.
"Das
vertrag ich nicht", "Ist das auch bio?", "Lieber nicht, ich
bin auf Diät" - fällt uns zum Essen nichts Besseres ein als seine
Nachteile und Risiken? Allerdings, findet die Foodtrendforscherin Hanni
Rützler, zum Beispiel Wertschätzung und Lebensqualität. Die Wienerin war eine
der ersten Ernährungswissenschaftler in Österreich und gründete 2010 das
Institut für Ernährungsforschung "futurefoodstudios". Im Interview
mit Süddeutsche.de erklärt die
Gesundheitspsychologin, warum Essen eine hochpolitische Angelegenheit ist und
unter welchen Voraussetzungen Männer kochen. Ein Gespräch über
Flexitarier, Genuss und die richtige Einstellung zu Schokolade.
Es sind
einfach zu viele Gerichte, die ich gerne esse. Und meine Vorlieben schwanken je
nach Saison und Angebot. Wenn die Qualität
der Ausgangsprodukte und die der Zubereitung stimmt, esse ich fast
alles gerne.
"Du bist
was du isst." Was sagt ein Lieblingsessen über eine Person aus?
Der Satz
gilt viel mehr für unser Essen im Alltag als für besondere Lieblingsgerichte;
ob man Essen mit Sorgfalt auswählt oder unbewusst und wahllos seinen
Hunger stillt.
Welche
Bedeutung hat Essen heute?
Durch die
Individualisierung unserer Gesellschaft wurde es zunehmend ein Ausdrucksmittel
unserer Persönlichkeit. Wir verleiben es uns ein, es ist ein Teil von uns - und
damit auch hochpolitisch. Wir entscheiden mehrmals täglich, was und wie wir
essen, diese Entscheidung geben wir bewusst nicht ab. Das hat auch mit
Selbstliebe und Wertschätzung zu tun. Wenn man liebevoll mit sich umgeht, dann
schaufelt man nicht lieblos in sich rein. An meinem Ernährungsstil erkenne ich
am schnellsten, wie es mir geht, wie gestresst ich bin. Wenn ich etwa das
Gefühl habe, nicht mehr satt zu werden oder merke, dass ich Sachen esse, die
mir nicht schmecken, dann bin ich aus dem Lot.
Umso
erstaunlicher, dass wir so wenig dafür ausgeben. Ist uns gutes Essen nichts
mehr wert?
Wir geben
viel Geld aus fürs Auto, aber im Vergleich zu anderen Ländern extrem wenig für
Lebensmittel - nur etwa zehn Prozent. Wir unterhalten uns nicht darüber, ob
dieses oder jenes Brot besser ist, sondern ob es günstiger war. Der Supermarkt
hat uns beigebracht, wie man spart: Wir sammeln Punkte, lassen uns von Aktion
zu Aktion leiten. Und essen immer schön auf, selbst wenn wir satt sind oder es
uns nicht schmeckt - als wäre das Aufessen eine Wertschätzung des Essens, und
nicht das bewusste Einkaufen.
Geht es
wirklich nur ums Geld? Immerhin ist der Kunde doch aufgeklärt und interessiert
sich dafür, was er isst.
Sicher, wir
sind gut informiert und wollen nicht länger hinters Licht geführt werden.
Gesundheit spielt natürlich auch eine Rolle. Das Fachwissen über Ernährung
wächst und begleitet uns im Alltag, aber es wird damit auch zum Stressfaktor -
wir wissen, wie man Kalorien spart und was Kohlenhydrate sind, also glauben
wir, uns danach richten zu müssen. Zugleich erleiden wir einen zunehmenden
Wissensverlust zu Qualität und Lagerung. Unsere Generation kauft
Fleisch lieber fertig geschnetzelt als im Ganzen beim Metzger ein, viele
wissen nicht mehr, welches Fleisch man für welches Gericht verwendet.
Die meisten Menschen
wollen mit gutem Gewissen essen.
Seit Frauen
mehr arbeiten, konsumieren wir mehr Convenience-Produkte, also portionierte und
zubereitete Ware. Um Qualität zu erkennen, brauche ich Gemüse aber möglichst im
ursprünglichen Zustand und Fleisch in einem großen Stück. Außerdem gehen wir
häufiger essen und kochen seltener mit frischen, unverarbeiteten
Lebensmitteln. So haben wir im Laufe der Jahre verlernt, die Güte von
Lebensmitteln einzuschätzen.
Die
grenzenlose Auswahl in den Discountern erleichtert es dem Konsumenten auch nicht
gerade, eine vernünftige Entscheidungen zu treffen.
Das ist das
Problem: Wir leben in einem Schlaraffenland, aber wir sind der Vielfalt nicht
gewachsen. Der Supermarkt ist nicht der Ort, an dem man sich lustvoll damit
auseinandersetzt, unter 40 verschiedenen Ölen das richtige zu wählen. Also
orientiert man sich an den klassischen Marken oder am Preis.
Was ist
die Alternative?
Auf dem
Wochenmarkt kann man mehr über das Produkt erfahren und den Geschmack testen.
Auf diesem Weg hat sich eine eigene Liebhaberkultur um den Wein, den Kaffee und
seit Kurzem auch die Schokolade entwickelt. Und das, obwohl Schokolade viele
Kalorien hat und wir wissen, dass wir sie eigentlich nicht essen sollten.
Kein Wunder:
Schokolade steht für Gewissensbisse, Figurprobleme und Karies.
Genuss ist
eben ein Lernprozess. Nur Anfänger machen den Fehler, dass sie Schokolade
schnell essen. Dann ist zwar das "Problem" schnell weg, die
Verführung nicht mehr da. Aber leider bleibt damit auch der Genuss auf der
Strecke. Wer lernt, Schokolade bewusst zu genießen, dem gelingt das dann auch
bei der Karotte und beim Schnitzel - ohne Gewissensbisse.
Wie
vermittelt man seinen Kindern eine Esskultur?
Indem man
sie vorlebt - der Alltag prägt die Vorlieben. Wir lernen zu lieben, was wir
häufig essen. Gemeinsame Mahlzeiten halten die Familie zusammen - wo treffen
sich noch alle Familienmitglieder, wenn nicht am Esstisch? Leider wachsen viele
Kinder weit entfernt davon auf, da ist der Kühlschrank der gemeinsame Nenner.
Auf die Frage "Was gibt es heute zu essen?" lautet die Antwort häufig
"Hol dir was aus dem Kühlschrank."
Andererseits
sind Kochshows beliebt wie nie ...
Hier geht es
mehr um die Inszenierung, den Akt der Zubereitung. Kochstudios boomen, Freunde
gehen nicht essen, sondern gemeinsam kochen. Man wird eingeladen, nicht um zu
essen, sondern um dem Gastgeber dabei zuzusehen, wie er kocht oder grillt.
Kochen hat ja auch einen magischen Charakter, es bringt die
Menschen zusammen.
Ernährungswissenschaftlerin,
Gesundheitspsychologin und Foodtrendforscherin Hanni Rützler.
(Foto: privat)
Kochen
deshalb immer mehr Männer? Weil die Küche ihnen eine Bühne bietet?
Wenn Männer
Hausarbeit übernehmen, dann am liebsten das. Sobald Kochen vom
Versorgungsaspekt befreit ist, wird es cool, dann macht es Spaß. Es hat etwas
Sinnliches, man erhält dafür Applaus, das gefällt ihnen.
In welche
Richtung bewegt sich unsere Esskultur?
Wir haben
"Peak Meat", den Gipfel des Fleischkonsums, in jedem Fall
überschritten. Immer mehr Menschen entwickeln einen vernünftigen Umgang mit
Fleisch und ein Bewusstsein für Qualität
und außergewöhnliche Spezialitäten wie zum Beispiel "dry
aged beef".
Sie
meinen dieses abgehangene Schimmelfleisch, das am Knochen reift. Inzwischen
kann man solche Luxusfleischsorten aus dem Katalog bestellen - muss das sein?
Ganz
ehrlich? Wenn man das einmal gegessen hat, will man nichts anderes mehr.
Freilaufende Hühner, die in Ruhe wachsen, sind auch teuer, aber nicht
vergleichbar mit der Supermarktware.
Frisch
und nachhaltig essen, wenn Fleisch, dann von exzellenter Qualität - dafür gibt
es einen eigenen Begriff: Flexitarier.
Das
beschreibt sehr schön die neue Ernährungsweise im urbanen Raum. Die jungen
Kreativen in den neuen Berufsgruppen wollen sich nicht mit Besitz belasten, der
sie bindet und der gepflegt werden muss. Der moderne Mensch überlegt lieber,
wie er seine Lebensqualität erhöht. Entsprechend lösen sich auch in der Esskultur
die klassischen Strukturen auf zugunsten einer kreativen Weltküche mit
italophilen oder asiatischen Varianten, wo das Fleisch nicht im
Zentrum steht.
Klingt
ziemlich unaufgeregt. Wo bleibt da die politische Motivation?
Es geht
nicht mehr um den Verzicht an sich, auch die Moral ist nicht mehr treibend. Man
will einfach genießen können. In den USA ist es mittlerweile ganz normal, dass
man vegane Restaurants nicht deshalb besucht, weil man vegan lebt. Sondern weil
es schmeckt und gute Produkte verwendet werden. Früher war das exotisch, heute
schreiben manche Lokale das nicht mal mehr auf ihr Schild.
Also
Essen ohne missionarische Botschaft?
Wir sind
pragmatischer geworden, sind es vielleicht auch einfach leid, die Probleme mit
an den Tisch zu nehmen. Wir wollen durch unser Essen keine Menschen ausbeuten,
Böden ausmergeln oder Tiere quälen.